Immer weiter von dir weg

Zehn Monate danach. Und weiterzuleben bedeutet, immer weiter von dir weg zu leben. Dorthin wo nur noch Worte zum Erinnern bleiben. Weil die Wirklichkeit sich langsam zurückzieht, wenn Worte nachfassen wollen. Verschwindest du immer weiter im Festschreibenwollen namenloser Tatsachen. Und ich sauge nach und nach das Leben aus den Worten, bis sie nicht mehr sind als eine Ansammlung zitternder Buchstaben. Die nicht mehr von dir tragen können, als die Bedeutungslosigkeit einer sich auflösenden Erinnerung. Gegenüber der Hände, die dein Gewicht suchen. Auf der Straße dein Gesicht, wie es hätte sein können. Halte ich dich mit meinen Blicken fest, bis ich dich wieder in der Menge verliere. Weil du immer mit Fremden mitgehst. In ein anderes Haus, wo deine Bilder an einer anderen Wand hängen, während meine Hände zuhause ausbluten und ich wieder und wieder zurück an den Anfang kehre: Zwei Wochen plus null und noch zählte keiner. Noch wusste keiner, dass es etwas zu zählen gab. Tage, Wochen, Monate, zehn Finger, zehn Zehen, eine Nase, einen Mund und zwei Augen, zwei Ohren, jedes einzelne Haar, später, später, wollen wir alles gezählt haben. Im grellen Licht, bei diesem betrachtet: Bleibt eine Frage. Ob du noch hier wärst, wenn ich von Anfang an alles gezählt hätte? Und noch einmal auf Anfang gehen: Zwei Wochen plus null und noch zählte keiner. Noch wusste keiner, dass es etwas zu zählen gab. Tage, Wochen, Monate, zehn Finger, zehn Zehen, eine Nase, einen Mund und zwei Augen, zwei Ohren, jedes einzelne Haar. Später, wollen wir alles gezählt haben. Später, wollen wir alles gezählt haben. Deine Finger, deine Zehen, jedes einzelne Haar. Geht immer mit Fremden mit. Also noch einmal auf Anfang gehen: Zwei Wochen plus null. Und wenn es vorbei ist, will alles gezählt sein. Wenn nur noch das Gefühl bleibt, dass die Zeit wirklich ein Ende hat. Will man noch einmal auf Anfang gehen.

Quelle: Lilium Rubellum (Seite 110) Kathrin Schadt, Horlemann Verlag 2014 (siehe  Medientipps)

Fremdkörper in meiner eigenen Welt

Einen Tag danach. Und man wachte zuhause auf. Am Morgen danach wachte man trotzallem irgendwann einfach wieder auf. Wie jeden Morgen, war das Bett noch da, der Schrank, der Tisch, das Zimmer. Die Augen zum Aufschlagen. Die Tasche aus dem Krankenhaus, ein Teller mit Essensresten, deine herunter gebrannte Kerze. Waren noch da. Die Hände auf der Decke über dem Bauch. Die Hände, waren noch da. Und er, der sein T-Shirt über den verschlafenen Kopf zog, glattstrich, war noch da. Das Gefühl aus dem fremd gewordenen Körper herausbrechen, mit einem lauten Knall in die darauffolgende Stille explodieren zu wollen. Mich auflösen zu wollen, in das Nichts, das uns geblieben, war noch da. Nichts, auf das kein lauter Knall folgte. Nichts das uns hinterließ, wie es sich an fühlte. Verwüstet. War ich die Einzige, die das ewig nachhallende Echo hörte. Während ich aufstand, Kleider überzog, Tee kochte, Tassen spülte, Tassen abtrocknete, Tassen in den Schrank stellte. War ich ein neugeborener Fremdkörper in meiner eigenen Welt.

Quelle: Lilium Rubellum (Seite 99) Kathrin Schadt, Horlemann Verlag 2014 (siehe  Medientipps)

Bleibt Erinnerung

Zwei Wochen plus null und noch zählte keiner. Noch wusste keiner, dass es etwas zu zählen gab. Tage, Wochen, Monate, zehn Finger, zehn Zehen, eine Nase, einen Mund und zwei Augen, zwei Ohren, jedes einzelne Haar, später, später, wollten wir alles gezählt haben. Im grellen Licht, bei diesem betrachtet, in der Sonne im Frühling, hatte sich nichts angekündigt. Während ich hier saß, in Sonne und Frühling, waren wir nicht alarmiert. Zwei Vögel im Paradies, erwarteten wir leichtsinnig eine Warnung: Peng, ein Schuss, ein Tusch vielleicht, ein Glöckchen. Irgendein Zeichen, auf das man in der Stille vertraut. Während ich hier saß und Zeitungsseiten umschlug, eine nach der anderen, entgegen der Nachmittagsschwere, wurde die Zeichnung der Nacht – das Zeichen – nur zwischen Schenkel geschlossen. Über den Fluss gesehen, in das später werdende Licht, das auf dem Wasser in bewegliche Scherben brach. Während ich hier saß, über den Fluss sah und das unfassbare Gefühl der letzten Nacht nur zwischen Schenkel schloss. Erst später erkannt, der Meilenstein am Rande des Weges, der letzte Brunnen an der Abzweigung zur Wüste.
Bleibt Erinnerung, aus der auch später nicht geschöpft werden kann: Ein Abend zu Hause im Frühling, ein Abend auf dem Balkon am wetterspröden Holztisch. Darauf eine Schüssel mit dampfenden Nudeln, ist das letzte Bild das wir wiedererkennen. Alles was folgte, bleibt fremd. Auch man selbst, ist neu, das Alte existiert nur noch entfernt. Hatte ohne Vorwarnung andere Vorzeichen bekommen, eine fremde Sprache, der wir uns einstimmig verweigern. In der Hoffnung, eines Tages zurück kehren zu können, in die Heimat. Dort, wo wir uns auskannten, war eine Schüssel Nudeln auf dem Tisch, eine Schüssel Nudeln auf dem Tisch, ist nicht mehr das, was es einmal war. Nichts mehr, nichts mehr ist, was es einmal war. Ein Abend im Frühling und Weingläser auf dem Holztisch, die wir füllten und leer tranken, um später mit purpurnen Lippen zwischen die Laken zu schlüpfen, die am Ende der Nacht über das Bettende gerutscht waren. Weil wir nichts brauchten, weil wir alles hatten. Vor allen Dingen dieses unfassbare Gefühl, dass alles gut war.

Quelle: Lilium Rubellum (Seite 11) Kathrin Schadt, Horlemann Verlag 2014 (siehe  Medientipps)

Anfang und Ende

fang an fang an fang an fang a t m e ein nicht an fang
nicht an gefangen in anfang und ende nicht in sicht
weil hinter uns und vor uns kein ende kein anfang
in ein ander gefallen ande endfang begrüßen wir d abschied
und wir verschwinden mit in ein an gefangenes bild an einer
an deren wand in einem an deren haus ist anders das wir
nachdem ein mal eins gleich drei und ein mal drei nie wieder
zwei abschiede denn es bleibt ein fehlen bleibt ein anderes bleibt
ein zwischen sein bleibt
ein ohne uns

Quelle: Lilium Rubellum (Seite 10) Kathrin Schadt, Horlemann Verlag 2014 (siehe  Medientipps)

Ohne Uns

Vierzig Wochen plus drei und als der Zeitpunkt gekommen war, dich Fremden übergeben, in einer Sporttasche fortgetragen. Während die Stunden ohne dich mir im Sekundentakt die Haut vom lebendigen Leib zogen und ich durch die Kälte auf den Friedhof eilte, war ich nur noch rohgefühltes Fleisch. Als ich dich dort ein letztes Mal wiedersah. Das Tuch ein letztes Mal von deinem Gesicht zog, als würde ich daran mit dir ersticken. Ließen wir dich Stück für Stück in die Tiefe, gaben dich für immer auf diesen Grund. Endlos die Erde, die nach und nach in die Tiefe fiel, nicht rieselte, auf dein fliederfarbenes Tuch. Während ich mir den Bauch hielt, aus dem mich deine Leere nun ununterbrochen anschrie. Wollte ich mir die Ohren zuhalten und hielt mir den Bauch. Weil wir uns auf namenlosem Boden verloren hatten, statt uns zu halten. Kannten wir uns nicht mehr, sein Blick meinem fremd. Erlebten wir dasselbe, voneinander getrennt. Und fragten uns dennoch, ob die Götter besänftigt, uns vielleicht verschont hatten. Und wir sahen genauer hin, und wir fanden uns nicht wieder. Wir war nicht mehr das alte und wir fanden kein neues. Weil wir uns nicht an zwei erinnern konnten, nachdem Wir einmal drei war. Bleibt ein Fehlen, bleibt ein Anderes, ein Zwischen Sein, ein Ohne Uns.

Quelle: Lilium Rubellum (Seite 70) von Kathrin Schadt (siehe  Medientipps)