Nicht alle Schmerzen sind heilbar
Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.
Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.
Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.
Ricarda Huch
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Segen der Trauernden
Gesegnet seien alle, die mir jetzt nicht ausweichen.
Dankbar bin ich für jeden, der mir einmal zulächelt und mir
seine Hand reicht, wenn ich mich verlassen fühle.
Gesegnet seien die, die mich immer noch besuchen,
obwohl sie Angst haben, etwas Falsches zu sagen.
Gesegnet seien alle, die mir erlauben, von meinem Verstorbenen zu sprechen.
Ich möchte meine Erinnerungen nicht tot schweigen.
Ich suche Menschen, denen ich mitteilen kann, was mich bewegt.
Gesegnet seien alle, die mir zuhören, auch wenn das,
was ich zu sagen habe, sehr schwer ist.
Gesegnet seien alle, die mich nicht ändern wollen,
sondern geduldig so annehmen, wie ich jetzt bin.
Gesegnet seien alle, die mich trösten und mir zusichern,
dass Gott mich nicht verlassen hat.
Marie Luise Wölfing, Schriftstellerin
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Blauer Schmetterling
Flügelt ein kleiner blauer
Falter vom Wind geweht
ein perlmutterner Schauer,
glitzert, flimmert, vergeht.
So mit Augenblicksblinken,
so im Vorüberwehn.
Sah ich das Glück mir winken
glitzern, flimmern, vergehn.
Hermann Hesse
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Frühling
Der Frühling war für mich jahrelang eine schlimme Zeit:
Die warmen Sonnenstrahlen, der weiche duftende Wind,
das Gezwitscher der Vögel und die zarten Blumen und Gräser –
das alles machte mich traurig
und ich versuchte es nicht zu sehen.
Deshalb waren meine Fenster zu
und die Jalousien geschlossen.
Nur auf einem ca. 3 qm großen Stückchen Erde
konnte ich mich daran erfreuen –
am Grab von Frank, Jörg, Stephan und Matthias –
meinen Kindern.
Die Krokusse, Schneeglöckchen und Tulpen
konnte ich dort kaum erwarten
und ich erkannte jedes neue Blättchen
an der kleinen Trauerweide.
Den beiden Salamandern,
die sich an dem hellgrauen Naturstein aufwärmten
und dann auf ihm herumhuschten,
konnte ich stundenlang zuschauen.
Hunderte von Hummeln, Bienchen, Fliegen, Spinnen,
Ameisen und Schmetterlinge fühlten sich hier geborgen.
Ich setzte mich neben die kleine Naturhecke, die das Grab begrenzt
und wartete auf eine kleine Freundin:
Jedes Jahr besuchte die Jungs und mich eine hübsche, lebhafte Amsel.
Sie setzte sich wippend auf den Grabstein
und betrachtete mich mit ihren klugen, schwarzen Äuglein.
Manchmal erzählte ich ihr dann
von meinen großen und kleinen Buben,
denen ich hier so nah und doch so fern war
Es ist wieder Frühling –
aber heuer freue mich
über die warmen Sonnenstrahlen,
und die duftenden Blumen.
Ich lasse mich von dem
lauen Wind streicheln
und warte auf meine kleine Freundin,
die Amsel….
Monika Peter (eine trauernde Mutter)
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Ich gehe langsam …
Ich gehe langsam aus der Welt hinaus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne
und was ich war und bin und was ich bleibe
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretenes Land
Ich gehe langsam auf der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne
und was ich war und bin und immer bleiben will
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
als wär ich nie gewesen oder kaum.
Hans Sahl (Schriftsteller; 1902-1993)
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Werden wir uns also wiedersehen?
Wenn dich plötzlich das starke Gefühl erfasst,
der, den du geliebt hast und liebst, sei dir nahe,
er habe dir ein Zeichen gegeben,
dann lass dich nicht irremachen. Nimm es an.
Ich bin überzeugt, dass es mehr Verbindungen gibt
zwischen denen drüben und uns hier,
als die meisten von uns heute meinen.
Ich glaube, dass ein Mensch, zu dem wir reden
in der Stunde nach seinem Sterben,
hört, was wir ihm sagen,
und dass die Toten uns Zeichen geben.
Wir brauchen dazu keine besonderen Fähigkeiten.
Wir müssen nur wissen, dass die Wand dünn ist
zwischen jener Welt und der unseren.
Werden wir uns also wiedersehen?
Unser Auftrag auf dieser Erde ist der,
an Liebe reicher zu werden.
Und ich glaube, dass die Liebe,
die in uns gewachsen ist, nicht verlorengeht.
Ich glaube an ein Finden und Begegnen –
wie immer es dann geschehen sollte –
wie hier, so in der anderen Welt.
Jörg Zink (Theologe)
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… wenn du mich liebst
Ich bin nur auf die andere Seite gegangen.
Ich bin ich, du bist du.
Was wir füreinander waren, das ist für immer.
Sag mir jenen Namen, den du mir immer sagtest.
Sprich zu mir, wie du es immer tatest.
Versuche keine andere Stimme.
Erwecke nicht einen feierlichen Eindruck.
Lache weiter, worüber wir zusammen lachten.
Bete, lächle, denke an mich, bete mir mir.
Mein Name möge zuhause weiterhin erklingen, wie ehedem.
Ohne jegliche Übertreibung und ohne eine Spur von Schatten.
Das Leben bedeutet immer, was es schon immer bedeutet hat.
Es ist, was es schon immer war; der Faden ist nicht durchschnitten.
Warum sollte ich ausserhalb deiner Gedanken sein,
nur weil ich nicht in deinem Blickfeld bin?
Ich bin nicht weit weg, gerade auf der anderen Seite des Weges.
Du siehst, alles wird gut.
Du wirst mein Herz wieder finden,
ja, du wirst die gereinigte Zärtlichkeit spüren.
Trockne deine Tränen und weine nicht, wenn du mich liebst.
Hl. Augustinus (354 – 430)
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Ithaka
Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst,
So hoffe, dass der Weg lang sei,
Reich an Entdeckungen und Erlebnissen.
Die Lästrygonen und die Zyklopen,
Den zornigen Poseidon, fürchte sie nicht;
Solche findest du nie auf deinem Weg,
Wenn deine Gedanken erhaben bleiben,wenn erlesene Gefühle
Deinen Geist und deinen Körper beherrschen.
Den Lästrygonen und den Zyklopen,
dem wilden Poseidon, ihnen wirst du nicht begegnen,
Wenn du sie nicht in der Seele trägst,
Wenn deine Seele sie nicht vor dich stellt.
Hoffe, dass der Weg lang sei,
Voll Sommermorgen, wenn du,
Mit welchem Vergnügen, mit welcher Freude,
In bisher unbekannte Häfen einfährst.
Unterbrich deine Fahrt in phönizischen Handelsplätzen,
Und erwirb schöne Waren,
Perlmutt, Korallen, Bernstein und Ebenholz,
Allerlei berauschende Essenzen,
Soviel du vermagst an berauschenden Essenzen.
Besuche viele ägyptische Städte,
Und lerne mehr und mehr von den Gelehrten.
Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken.
Dort anzukommen ist dein Ziel.
Aber beeile dich auf der Reise nicht.
Besser, dass sie lange dauert,
Dass du als alter Mann erst vor der Insel ankerst,
Reich an allem, was du auf dem Weg erworben hast,
Ohne die Erwartung, dass Ithaka dir Reichtum schenkt.
Ithaka hat dir eine schöne Reise beschert.
Ohne Ithaka wärest du nicht aufgebrochen.
Jetzt hat es dir nichts mehr zu geben.
Und auch wenn du es arm findest, hat Ithaka
Dich nicht enttäuscht. Weise geworden, mit solcher Erfahrung
Begreifst du ja bereits, was Ithakas bedeuten.
Konstantinos Kavafis (1863–1933)
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Der Mandelzweig
Freunde, dass der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging,
so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering
in der trübsten Zeit.
Schalom Ben-Chorin