Interview mit Claudia M.

Wann ist das Kind, um das du trauerst, gestorben?

Meine Zwillingsschwester ist im Februar 1996 im Alter von fünf Jahren gestorben. Sie war seit Geburt schwerstbehindert und ist in der Folge ihrer Behinderung gestorben.

Kannst du etwas zur Beziehung sagen, die du zum verstorbenen Kind gehabt hast?

Wir waren Zwillingsschwestern. Sie war immer für mich da und hat auf mich aufgepasst, jedenfalls kam es mir so vor. Ich habe mich um sie gekümmert, ihr Nester in ihren Sitzsack gebaut, und darauf geachtet, dass es ihr gut ging. Ich wusste, was sie dachte und was sie mochte. Ich war stolz, dass ich eine Schwester wie sie hatte und dachte, alle anderen würden mich um so eine Schwester beneiden. Niemand hatte so eine Schwester wie ich. Meine Schwester war cool. Manchmal wollte ich so sein wie sie.
Dass ich nicht richtig mit ihr spielen konnte, hat mich, glaube ich, nicht wirklich gestört, weil ich ja noch eine große Schwester hatte, mit der ich viel gespielt habe. Sie war einfach so, wie sie war. Für mich war sie nicht falsch, sondern genau richtig.
Ich hatte schon unsere gemeinsame Zukunft geplant. Es war für mich klar, dass wir denselben Mann heiraten würden, denn es war für mich auch klar, dass sie es später schwer haben würde, einen Mann zu finden. Ich wusste nicht, dass sie sterben würde und hätte nie damit gerechnet, dass ich mal ohne sie sein würde.

Wie hast du dich gefühlt, als du von seinem Tod erfahren hast? (Unmittelbar danach, nach einer Woche, nach einem Jahr).

Als sie gestorben ist, habe ich mich irgendwie eingefroren gefühlt. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, es war, als wäre die Zeit stehengeblieben und als gäbe es keine Zukunft mehr. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und stand einfach nur da, wie eingefroren. Ich hatte nicht viele Gedanken in diesem Moment, es war einfach ein großer Schock. An diesen Moment habe ich eine sehr klare Erinnerung, aber eben nur an diesen Moment. An vieles andere, was an diesem Tag noch passiert ist, erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur noch sehr verschwommen daran, wie sie von Bestattern abgeholt wurde. An die Beerdigung ein paar Tage später erinnere ich mich hingegen noch sehr gut.

Später hatte ich große Schmerzen, als wäre nur noch die Hälfte meines Körpers vorhanden und als hätte ich ein großes Loch im Herzen. Es tat weh, dass meine Schwester so weit weg von mir war. Es war komisch, dass ich danach wieder in den Kindergarten sollte und dass die Welt einfach weiterlief, ich fühlte mich nicht mehr richtig im Kindergarten.

Wie hat dich der Tod des Kindes verändert?

Der Tod meiner Schwester hat mir ein Stück weit meine Leichtigkeit und mein Vertrauen in das Leben und in die Welt genommen, meine Unbeschwertheit. Und er hat vielleicht etwas Angst, Traurigkeit, Ernsthaftigkeit und Tiefe in mein Leben gebracht. Vielleicht, weil man das ja auch immer nicht so richtig sagen kann.

Wie denkst du heute über den Tod? Was für eine Beziehung hast du zum Tod?

Ich habe keine Angst vorm Tod und ich kann es mir auch nicht vorstellen, ewig zu leben. In gewisser Weise gibt der Tod dem Leben einen Rahmen. Der Tod macht das Leben wertvoll. Der Tod ist das Ende des Lebens. Ich glaube nicht daran, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht, das ist auch okay für mich. Trotzdem ist meine Beziehung zum Tod zwiegespalten, er hat mir meine Schwester genommen, und das ist ein guter Grund, den Tod richtig blöd zu finden.

Welche Erinnerungen hast du an die Beisetzung des Kindes? War diese für dich eher tröstlich oder hat sie dir den Verlust noch schwerer gemacht?

Die Beerdigung war für mich wirklich sehr seltsam, und auch sehr traurig und schwer. Ich fühlte mich sehr allein. In meiner Erinnerung an die Beisetzung tauchen weder meine Eltern noch meine Geschwister auf, es fühlt sich so an, als wäre ich allein dort gewesen. Ich hatte Angst, es war eine fremde Situation für mich, ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten sollte.

Ich empfand es als sehr große Gemeinheit, dass sie meine Schwester in einen Sarg steckten und in der Erde vergruben. Und seltsam fand ich es auch. Denn etwas, das man liebt, vergräbt man doch normalerweise nicht in der Erde. Ich fand das Loch, in das sie den Sarg herunterließen, viel, viel zu tief. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass meine Schwester es in dem Sarg so bequem hatte, wie auf ihrem Sitzsack. Ich war dagegen, dass meine Schwester beerdigt wurde. Ich wollte sie behalten. Beerdigung hieß, dass meine Schwester noch viel weiter entfernt von mir war, als vorher, als sie einfach nur tot war. Jetzt war sie tot und auch noch unter der Erde, das war doppelt schlecht.

Besuchst du sein Grab noch und was erlebst du dort?

Manchmal, eher selten, besuche ich das Grab meiner Schwester und erinnere mich dort an ihre Beerdigung und wie es war, als ich als Kind ihr Grab besuchte. Aber eigentlich brauche ich keinen Ort.

Wie trauerst du? Hast du beispielsweise eigene Trauerrituale für dich gefunden?

Ich habe ein Trauerritual, womit ich allerdings erst sehr spät begonnen habe, sodass ich gar nicht weiß, ob man da von Trauerritual sprechen kann. Jedenfalls habe ich mir vorgenommen, jedes Jahr etwas zu tun, was mit dem Tod meiner Schwester in Verbindung steht. Letztes Jahr zum Beispiel habe ich den Blog* gestartet. Das war schon eine größere Sache, aber es müssen keine großen Dinge sein. Vielleicht werde ich dieses Jahr den ehemaligen Kindergarten meiner Schwester besuchen oder einen Text über meine Schwester auf einer Bühne vorlesen oder neue Sachen über den Tod und die Trauer lernen.

Ansonsten habe ich, glaube ich, keine Trauerrituale. Es ist jedoch ein Ritual der Natur, dass es am Todestag meiner Schwester im Februar immer windig ist, das ist fast ein Naturgesetz, und ich freue mich immer darüber.

Vermeidest du bestimmte Orte, Handlungen und/oder Menschen, weil sie dich zu sehr an das verstorbene Kind erinnern?

Ich schaue seitdem bei Beerdigungen nicht mehr in das offene Grab hinein. Nicht, weil es mich zu sehr an meine Schwester erinnert, aber eben weil es mich zu sehr an die Beerdigung meiner Schwester erinnert, und an den Schmerz, das Zu-weit-weg-Sein.

Was hättest du gebraucht, aber nicht bekommen, als das Kind gestorben ist?

Ich habe mich sehr allein gefühlt, als meine Schwester starb, vielleicht so, als wäre gerade nicht nur meine Schwester gestorben, sondern auch meine Eltern und irgendwie alles, woran ich geglaubt hatte, alles, was ich für sicher gehalten hatte, alle meine Pläne, alles, woran ich Freude gehabt hatte.

Ich war sehr geschockt, weil ich nie gedacht hatte, dass meine Schwester sterben könnte. Vielleicht hätte man mich darauf vorbereiten können, mit mir im Vorfeld darüber sprechen können (die Erwachsenen wussten schon seit unserer Geburt, dass meine Schwester nicht lange überleben würde).

Ich hätte mir Begleitung gewünscht, dass jemand mich gehalten hätte, mir beigestanden hätte, mit mir gesprochen und mich verstanden hätte, an dem Tag, an dem meine Schwester starb, an den Tagen danach, an ihrer Beerdigung. Vielleicht sind Eltern, die gerade eines ihrer Kinder verloren haben, nicht in der Lage für so etwas, aber vielleicht sollte es irgendjemand geben, der das übernimmt.

Ich hätte mir Erinnerungsstücke gewünscht, dass mir jemand irgendwas aufgehoben hätte von ihr. Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an sie. Es gibt nur wenige Fotos und keine persönlichen Gegenstände mehr von ihr. Unter den Fotos ist zum Beispiel kein Foto, auf dem einfach nur wir zwei drauf sind, immer sind mehr Menschen darauf oder nur sie allein, aber so ein richtiges Zwillingsfoto habe ich nicht, das finde ich traurig. Ich war zu klein, um etwas aufzuheben oder gar die Tragweite zu verstehen, ich war zu klein, um mich bewusst von ihr zu verabschieden. Vielleicht fühle ich mich deshalb ein wenig so, als wäre ich um den Abschied und auch um meine Trauer betrogen worden.

Ich hätte mir gewünscht, dass nach dem Tod meiner Schwester über sie gesprochen wird, dass man hätte Fragen stellen und zuhören können, dass ich hätte erzählen können von meinen Empfindungen, auch zehn Jahre später noch. „Du kannst immer fragen“, sagten meine Eltern, aber ich habe selten Fragen gestellt, nie viel über sie geredet, weil auch niemand anderes Fragen stellte und über sie redete.

Ich hätte mich gefreut, wenn sich irgendwann jemand für sie interessiert hätte oder so etwas gesagt hätte: „Ich vermisse sie auch sehr.“ Wenn ich nicht so allein in der Trauer gewesen wäre. Stattdessen hörte ich so etwas wie: „Jetzt muss sie nicht mehr leiden“, und das stimmt vielleicht auch, aber das nimmt meiner Trauer doch nicht ihre Berechtigung.

Und dann die Zeit, ich hatte oft das Gefühl, es gibt eine gewisse Zeitspanne, in der du vielleicht noch traurig sein darfst, und wenn diese Zeit vorbei ist, ist es genug, egal, wie du dich fühlst

Was fandest du im Kontext mit deiner Trauerarbeit besonders erschwerend (z. B. Verhalten bestimmter Menschen) und was besonders hilfreich?

Als erschwerend empfinde ich im Kontext der Trauerarbeit, dass ich ein Kind war, und wenig eigene Entscheidungen treffen konnte. Als Kind kann man nicht einfach entscheiden, dass man jetzt erst mal nicht mehr in den Kindergarten gehen will oder dass es auf der Beerdigung rote Luftballons geben soll oder wie der Grabstein aussehen soll. Für manche Dinge hat man noch gar keine Worte. Man kann sich nur sehr begrenzt Hilfe holen, man ist einfach auf die Personen in seinem Umfeld angewiesen, dass die die richtigen Entscheidungen für einen treffen und einen verstehen. Schwierig war außerdem für mich, dass ich oft erfuhr, dass der Tod meiner Schwester „nicht so schlimm“ war, da sie ja schließlich schwerstbehindert gewesen war. Für mich war es jedoch sehr schlimm, dass sie tot war, und das unabhängig von ihrer Behinderung.
Hilfreich war immer das Schreiben für mich. Ich habe schon früher immer sehr viel geschrieben, und dass ich jetzt viele Sachen auch auf meinem Blog aufschreiben kann, ist großes Glück für mich. Dass ich heute frei trauern kann ist sehr wertvoll für mich.

Bist du zuweilen wütend auf das verstorbene Kind? Wenn ja, wie gehst du damit um?

Nein, ich war und bin nicht wütend auf meine Schwester. Ich war manchmal sehr wütend auf den Tod und auf das Leben. Teilweise war ich sehr wütend auf mich selbst, weil ich nicht tot war, und weil das mir wie Verrat an meiner Schwester vorkam.

Wie geht es dir heute, wenn du über den Tod des Kindes nachdenkst?

Es ist immer noch ein sehr komischer Gedanke für mich, dass meine Schwester tot ist und ich lebe. Ich glaube, wenn die Zwillingsschwester stirbt, dann ist das so haarscharf an einem vorbei, so dicht. Dann weiß man, ich hätte auch sterben können, und das ist ein sehr krasses Gefühl, besonders dann, wenn man noch ein Kind ist.

Ich habe das Gefühl, meine Schwester und ihren Tod immer mit mir herumzutragen, egal, wo ich bin und was ich mache. Das macht den Körper manchmal schwer und traurig, und manchmal will ich lieber leichter sein. Aber es ist auch schön, eine Zwillingsschwester zu haben, auch wenn das bedeutet, dass man immer Sehnsucht nach ihr hat. Ich bin okay mit ihrem Tod, ich kann damit leben. Trotzdem gibt es noch ein Gefühl der Trauer, weil sie tot ist, klar, und vielleicht trauere ich ein bisschen auch um das Kind, das ich mal war, vor ihrem Tod, und das ich danach nie wieder sein konnte. Ich denke manchmal darüber nach, wie mein Leben ohne den Tod meiner Schwester verlaufen wäre.

Ich danke dir herzlich dafür, dass du dir Zeit genommen hast, diese Fragen so persönlich zu beantworten.


* Claudia Möller bloggt auf Meineschwestertotundichhier. Sie fasst dort ihre Trauer aus der Sicht des Kindes, das sie damals war, in Worte.

Interview mit Jana D.

Wie hast du dich in den ersten Tagen/Wochen/Monaten nach dem Tod deines Sohnes gefühlt?

Nach dem erweiterten Suizid, den mein getrennt lebender Mann sich und unserem dreijährigen Sohn Lars angetan hatte, lebte ich eine ganze Weile wie hinter Glas. Und als wäre ich selbst aus Glas. Die ersten Tage bis zur Beerdigung war ich ständig umgeben von lieben Freundinnen und Freunden und zum Teil auch von den nächsten Verwandten. Zum einen war ich unbeschreiblich traurig, fühlte mich verlassen und einsam, doch andererseits fühlte ich mich sehr aufgehoben und geborgen. Dass sich das nicht ausschließen muss, war eine Erkenntnis, die ich danach noch oft an mir beobachten konnte.

Da ich sowohl körperlich als auch psychisch sehr angeschlagen war, Kreislaufprobleme und Panikattacken hatte, war ich von Anfang in ärztlicher Behandlung. Das Beruhigungsmittel, das ich verschrieben bekommen hatte, setzte ich allerdings nach ein paar Tagen wieder ab, weil es mir das Träumen verunmöglichte. Doch gerade zu träumen war damals extrem wichtig für mich. In den Träumen konnte ich Lars begegnen, mit ihm Erlebtes erneut erleben und von ihm Abschied nehmen. Träumen bedeutet für mich in erster Linie verdauen und verarbeiten. Erstaunlicherweise konnte ich damals ziemlich gut schlafen, obwohl ich sonst keine sehr gute Schläferin bin. Wenn ich allerdings am Morgen oder in der Nacht erwachte, war der Schock lange Zeit sofort wieder da. Zuerst fühlte ich mich normal, doch dann fiel mir – buchstäblich schlagartig – alles sofort wieder ein. Ich habe sehr viel geweint damals, allein oder mit anderen, doch ich empfand das Weinen fast immer als tröstlich, als notwendig, als hilfreich.

Was hat dir geholfen, mit dem Verlust umzugehen?

Reden und Weinen haben mir sehr gut getan, doch vor allem war es das Schreiben. Das Schreiben über meine Erlebnisse, Erfahrungen, über den Schmerz, die Trauer, den Verlust. Fühlen und Schreiben, Schreiben und Fühlen – diese zwei Begriffe wurden nach und nach untrennbar für mich.

Was bedeutet das Schreiben für dich, in Bezug zu deiner Trauer?

Schon als ich mit Lars schwanger war, habe ich ihm Briefe geschrieben; ebenso in den ersten zwei Jahren seines Lebens. Irgendwann habe ich statt der Briefe wieder mehr Tagebuch zu schreiben angefangen, nicht zuletzt, weil sich die Beziehung zu Lars‘ Vater stetig verschlechtert hatte. Seine psychische Erkrankung wurde für uns beide immer mehr zu einer Sackgasse. Vor allem, weil er nicht einsah, dass er Hilfe gebraucht hätte. Nach dem gemeinsamen Tod der beiden habe ich wieder angefangen, Lars Briefe zu schreiben. Keine Briefe mehr diesmal, die einem Kind die Welt, in welcher er groß wurde, beschrieben, eher Briefe, in dem ich über meine Trauer und meinen Alltag schrieb. Das Schreiben ist im Laufe der Zeit so wichtig wie Atmen für mich geworden und ich habe mich später auch nebenberuflich in Richtung Schreiben weiterentwickelt.

Welche Reaktionen hast du nach dem Tod deines Sohnes von deiner Umwelt erfahren? Was hättest du dir von den Menschen in deiner Umgebung gewünscht?

Da der erweiterter Suizid, der zum Tod meines Sohnes und meines damals schon getrennt lebenden Mannes geführt hatte, große Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen hatte, habe ich von Seiten der Umwelt sehr viel Mitgefühl, ehrliches Mitgefühl erfahren. Sogar mir fremde Menschen haben irgendwie meine Adresse herausgefunden und mir Briefe und Karten geschrieben. Zum einen hat mich das sehr berührt und auch viel Trost gespendet, doch zum anderen fühlte ich mich auch sehr nackt und unter Beobachtung. Ob meine Veranlagung, nicht auffallen zu wollen oder dieser vermeintliche Beobachtungsdruck dazu geführt hatten, weiß ich nicht, doch ich setzte mich selbst sehr unter Druck, möglichst bald wieder einigermaßen funktionsfähig zu sein.

Inwieweit beeinflusst der Glaube/Nichtglaube deine Sicht auf den Tod?

Ich verstehe das Leben als etwas Übergeordnetes, Großes, mit dem Tod untrennbar Zusammenhängendes. Zwar glaube ich nicht an die Bibel und den christlichen Gott, doch in meinem Weltbild ist das Bewusstsein, dass Leben und Tod Teil eines zusammengehörenden Ganzen sind, verankert. Auch hege ich die Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Dass es entweder eine Art Himmel oder Paradies gibt, in der wir die vor uns Verstorbenen wieder sehen werden oder aber dass die Seelen in einer anderen Person wieder auf die Erde kommen. Dogmatisch bin ich diesbezüglich nicht, aber ich traue meinen Erfahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe. Die Erlebnisse nach Lars‘ Tod, einige berührende Begegnungen mit ihm, waren sehr eindrücklich. Und selbst wenn ich sie mir nur eingebildet haben sollte, ist es für mich so, dass aus dem Gedanken, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, mehr Trost zu schöpfen ist als aus jenem, dass mit dem Tod alles aus ist. Zwar glaube ich nicht an eine Hölle, doch glaube ich, dass wir leben, um Erfahrungen zu sammeln und uns weiterzuentwickeln. Liebevoller zu werden.

Lars war einer der liebevollsten Menschen, den ich je kennenlernen durfte. Mir vorzustellen, dass er mehr geliebt hat als manche viel ältere Menschen, ist für mich sehr tröstlich. Er hat so viele Menschen mit seiner Liebe berührt, dass es vermutlich für ein Leben genug war. Solche Gedanken trösten mich noch heute, wenn ich ihn vermisse.

Wie hat sich deine Trauer mit der Zeit verändert?

Ich habe sie in meinen Alltag integriert und dieser ist, was er ist. Ich weiß nicht, wie ich geworden, mich weiterentwickelt hätte, wenn Lars noch leben würde. Anders auf jeden Fall. Irgendwie merke ich, dass ich mir ein Leben ohne die latente Trauer, die ich heute als ‚mein großes Vermissen‘ beschreiben würde, als Phantomschmerz vielleicht auch oder als Noch-immer-Leere, nicht vorstellen kann. Ja, ein Leben ohne den physisch anwesenden Lars kann ich mir inzwischen vorstellen. Weil ich es erlebe. Aber ein Leben ohne ihn gekannt zu haben und ohne ihn noch immer zu vermissen, nein, das geht noch nicht. Auch nach mehr als dreizehn Jahren nicht. Ob das gut oder schlecht ist? Diese Frage stelle ich mir nicht. Es ist, wie es ist.

Wie geht es dir heute damit? Welche Themen/Fragen/Ängste beschäftigen dich aktuell? Wie hat der Tod dein Leben verändert?

Ich lebe noch immer wie auf einem Grat, mal gibt es helle Phasen, mal leide ich am Leben. (Die Depression ist schon seit meiner Pubertät meine Begleiterin. Vielleicht kann ich irgendwann besser mit ihr leben.) Zwar habe ich, dank meiner Freundinnen und Freunde und dank meines neuen Lebenspartners, den ich nun schon seit über sieben Jahren als Wegbegleiter kennen und lieben darf, neue Wege gefunden, mich dem Leben zu öffnen. Doch es gab immer wieder sehr schwere Zeiten. Da ich keine andere Kinder habe, war mit dem Tod meines Sohnes von heute auf morgen alles anders. Ich habe keine Nachkommen und je älter ich werde, wird mir zum Beispiel bewusst, dass ich nie Großmutter sein werde. Ich habe keine Familie – etwas, das ich mir schon in jungen Jahren sehr gewünscht hatte. Diese Leerstelle ist noch immer eine Art Wunde, die je nach Tagesform mehr oder weniger weh tut. Angst macht mir auch meine Zukunft, weil ich aus gesundheitlichen Gründen ziemlich eingeschränkt in meiner Belastbarkeit bin. Dennoch habe ich in meinem Leben vieles, das mich froh macht: Liebe Menschen wie meinen Partner und die Beziehungen zu Freundinnen, Freunden und Verwandten, das Schreiben, das Sein in der Natur, Wanderungen …

Gibt es etwas, was du durch den Tod gelernt hast?

Der Tod lehrt mich, seit ich als Kind den ersten Goldhamster beerdigt habe, seine Botschaft. Die der Vorläufigkeit und Vergänglichkeit. Alles ist endlich. Alles ist abschiedlich. Alles ist provisorisch. Jeder Zustand wechselt irgendwann in einen nächsten. Der Tod – und ja, auch das Leben – lehrt mich loszulassen. Es klingt so einfach und tut doch immer wieder neu so weh. Ich weiß nicht, ob ich das Loslassen wirklich schon gelernt habe.