Eine liebe Freundin war im Sommer 2003 gesundheitlich angeschlagen, weshalb sie sich nur schlecht bewegen und auch nicht an Lars’ Abschiedsfeier dabei sein konnte. Ich vermisste sie. Schon im Frühling hatten wir geplant, dass Lars und ich im Sommer eine Woche oder zwei zu ihr fahren würden, nach Frankreich, in die Lebensgemeinschaft, in der ich eine Zeitlang mitgelebt hatte. Nun sehnte ich mich danach, nicht nur am Telefon mit ihr über das Erlebte zu reden, sondern mit ihr zusammen am Feuer zu sitzen und hinzuschauen, was war. Was ist. Was werden kann. Diese große Schwester meines Herzens fehlte mir. Ob ich trotzdem hinfahren sollte? Ob ich diese Reise alleine schaffen würde? In meinem desolaten Zustand mit fragilem Kreislauf und den immer öfter auftretenden Panikattacken?
Das Zelt hatte ich eigens dafür gekauft, um mit Lars zu zelten. Wir hatten uns beide sehr darauf gefreut. Seit dem Umzug hatte es in Lars’ Zimmer gestanden, doch inzwischen hatte ich es abgebaut, eine oder zwei Wochen nach Lars’ Tod, und in den Keller gestellt. Bei meiner Freundin würde ich, wenn ich allein hinfuhr, allerdings eher nicht zelten. Ich würde in einem der Gästezimmer, von denen es dort ja genug hatte, schlafen. Falls ich hinfahren würde.
Eines Tages packte ich also einfach meine Sachen. Den Laptop, der mir damals zu einem meiner treusten Gefährten geworden ist, weil ich ihm jederzeit alles erzählen konnte, musste natürlich auch mit. Ich schrieb schon lange und fast täglich Tagebuch; dazu all die Mails und Briefe, an Freundinnen und Freunde. Auch an Lars schrieb ich weiterhin Briefe – ein Prozess, den ich in der Schwangerschaft angefangen hatte und der mir jetzt beim Loslassen half.
Es wurde meine erste längere Autoreise ganz allein. Eine von vielen, die noch folgen würden. Und ich schaffte es. Unterwegs legte ich ein paar Pausen ein, doch im Grunde war es ja nicht so schwer. Ich war diese Strecke ja schon oft gefahren, meistens als Mitfahrerin allerdings oder mit jemandem, der mich lotste, wenn ich unterwegs unsicher wurde. Mit einer Karte auf dem Schoß, denn Handy und Navigationsgerät waren damals ja noch kein Thema, wie mir eben bewusst wird.
Es war später Nachmittag, als ich den unbefestigten Weg zu den Häusern der Lebensgemeinschaft herunterrollte. Hochsommer. Ende Juli. Ziemlich genau ein Jahr seit dem letzten Mal. Seit jenem Besuch hier, bei welchem sich Lars am letzten Tag die Hand eingeklemmt hatte. Und nach welchem Antonio uns drei mit Alkohol im Blut und überhöhter Geschwindigkeit, dazu ein paar Tage früher als geplant, nach Hause befördert hatte.
Wie gut es tat, hier zu sein! Am nächsten Tag würden unser gemeinsamer Freund M., mit dem ich in Zürich zusammengewohnt hatte, und andere gemeinsame Freunde eintreffen, doch den ersten Abend hatten wir zwei Frauen nur für uns. Einfach hier zu sein war wie Balsam. Zusammen zu lachen, trotz allem Schrecklichen, tat so gut.
Als sich am nächsten Tag die andern Besucherinnen und Besucher aus der Schweiz verspäteten, wurde ich beinahe panisch. Erst nachdem sie von unterwegs angerufen und eine Stunde Verspätung gemeldet hatten, wurde ich ein bisschen ruhiger. Da begriff ich, dass vergebliches Warten auf Menschen zu einem Trigger für mich geworden war. Der Grund lag auf der Hand.
Noch heute reagiere ich latent panisch, wenn sich jemand unüblicherweise und unentschuldigt verspätet. Panikattacken lassen sich kaum beeinflussen, sie entziehen sich meinem Verstand und allen Vernunftgründen. Immerhin kann ich damit heute ein wenig gelassener umgehen.
Als die Freunde und Freundinnen schließlich angekommen waren, verdreifachte sich unsere kleine temporäre Gemeinschaft auf einen Schlag. Diese Lebendigkeit tat mir gut. Menschen und Gespräche, wann immer ich es wünschte, Stille und Natur, wann immer ich dies brauchte. Und immer war jemand da, der mich in die Arme nahm, wenn ich weinen musste.
Wir waren fast immer draußen. Am Feuer, am Fluss, am nahen Stausee, im Wald, wir redeten, wir kochten und aßen gemeinsam, wir fuhren fast jeden Nachmittag an den Lac de Vouglans, um zu schwimmen Und vor allem spielten wir ganz oft Karten. Ein neues Spiel eroberte mein Herz im Sturm. ’Der große Dalmuti’. Er rettete mich davor, in Schwermut zu versinken und half mir dabei, der Dunkelheit immer mal wieder mit einem mutigen Lachen zu entkommen.
Unglaublich, dass ich in solchen Momenten überhaupt lachen konnte! Es war mir oft so, als ob Lars sich mitfreuen würde. Sowohl unser Freund M. als auch meine Freundin M. hatten Lars gekannt, hatten die eine oder andere Geschichte von ihm zu erzählen. So war mir, als wäre er da. Mitten unter uns.
Ich begreife heute, wie wichtig diese Woche in Frankreich für mich gewesen ist. Es war mein tiefes Atemholen, bevor der Alltag allein, allein mit all dem noch zu Bewältigenden, auf mich zurollen würde.
Eine Auszeit, die mein Herz mit Liebe und Freundschaft, mit Mitgefühl und mit Lachen genährt hatte. Und wo meine Tränen Raum hatten zu fließen.
Ich erinnere mich an die eine Nacht, die mein Freund M. und ich unter dem Sternenhimmel verbracht hatten. Intensive Träume hatte ich da draußen auf dem Hofplatz. Ich träumte davon, dass alles anders ist, als es scheint. Von einer Brücke handelte der Traum, über die ich schreiten würde, und hätte ich die Brille aufgehabt, nachts, hätte ich bestimmt ganz viele Sternschnuppen gesehen. In einer Landschaft mit wenig Lichtverschmutzung kann man die Sterne viel besser sehen als in dicht besiedelten Gegenden. In dieser Ecke des Haut-Jura war der Nachthimmel schon immer grandios gewesen. Ob Lars nun auf einem dieser Sterne saß, wie der kleine Prinz, und mir zuwinkte? Ein Gedanke, der mir immer wieder, wenn ich den Sternenhimmel betrachte, ein leises Lächeln schenkt.
Zu dritt – Freundin M., eine anderen Frau, deren Großmutter kürzlich an den Folgen der Schweinegrippe gestorben ist und ich – feierten wir in diesen Tagen auch ein Loslassritual. Ich verbrannte dabei alle Briefe Antonios, die ich eigens dazu mitgenommen hatte. Wie Altlasten empfand ich sie, die mich daran hindern wollten, frei zu sein.
Ich ahnte den noch langen Weg in die Freiheit vor mir. Dabei solche Freundinnen und Freunde an der Seite zu wissen, ist etwas vom kostbarsten überhaupt.
(Fortsetzung folgt)
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Quelle: »Weiterleben | Biografische Essays«, Jana. D., noch unveröffentlicht.