Weiterleben ohne Lars – Teil 6

Oft dachte ich über Antonios letzte Tage und Stunden nach. Fragte mich, wie lange im Voraus er alles geplant hatte. Ob er womöglich bis zuletzt gehofft hatte, dass ich kommen und ihn erlösen würde. Besonders diese eine Frage kaute ich sehr oft wieder. Später erhielt ich bei einem Medium, einer Frau, die Kontakt zu Verstorbenen herstellen kann, eine Antwort.

Am Tag nach Lars’ Beerdigung war die Antonios. Im Dorf seiner Eltern und so anders als die seines Sohnes. Mit Lars’ Götti, und Lars’ Gotti, war ich hingefahren. Wir hatten uns ein wenig früher getroffen und setzten uns in ein Restaurant, um uns gegenseitig zu ermutigen. Hört ihr das? Wie kann das sein?, sagte ich. »I want to get away, I want to fly away.« Lenny Kravitz‘ Stimme sickerte aus den Lautsprechern an unseren Tisch. Gänsehaut. Einer von Antonios Lieblingssongs von einem seiner Lieblingsmusiker.

Meine beiden Begleiter waren ebenfalls tief erschüttert. Was für ein seltsamer Zufall. Wir horchten.

»I wish that I could fly. Into the sky. So very high. Just like a dragonfly.
I’d fly above the trees. Over the seas in all degrees. To anywhere I please.
Oh I want to get away. I want to fly away. Yeah yeah yeah.
Oh I want to get away. I want to fly away. Yeah yeah yeah.«

Wollte er mich mitnehmen?, fragte ich mich kurz. Vielleicht wollte er das wirklich. Aber ich will das noch nicht. Ich will jetzt hier sein.
Nein, ich will eigentlich auch sterben.
Nein, ich will leben. Lars will, dass ich lebe.

Ja, noch war es vor allem Lars, der mich am Leben hielt, so paradox das klingen mag. Mit einer orangefarbenen Rose in der Hand – fast hätte ich geschrieben: bewaffnet –, ging ich an der Seite meiner Freunde auf den Friedhof. Nur die nächste Verwandten waren gekommen, der ältere Bruder und die beiden Halbbrüder mit ihren Familien. Keine andern Freunde außer uns. Wer auch? Da war ja niemand mehr.

Wir saßen vorne in der Kirche und hörten uns das Gesalbader des Pfarrers an. Es war ihm anzumerken, dass er zum einen Antonio nicht persönlich gekannt hatte und zum anderen für seine Laudatio nur auf die Erzählungen meines Schwiegervaters hatte bauen können. Natürlich war Antonio ein wunderbarer Mensch gewesen. Ja. Trotz allem. Ohne Abstriche.

Er war dennoch und vor allem ein verzweifelter und ein unglücklicher Mensch gewesen. Nicht zuletzt durch das Aufwachsen als Sohn eines Vaters, der so narzisstisch und egozentrisch und einzig auf den äußeren Schein bedacht gewesen war, dass Antonio mit seiner Persönlichheit, mit seiner Sensibilität keinen Raum neben ihm gehabt hatte. Auch sein Bruder P. hatte sich immer schwer mit dem Leben getan, war nicht lebensfähig im Sinne einer gesellschaftlich konformen Lebensweise, wie sie sich der Vater für seine Söhne erträumt hatte. Von außen betrachtet.

Ob mein Schwiegervater sich je reflektierende Gedanken über das Innenleben seiner Söhne gemacht hatte? Ob er sich wohl je gefragt hatte, warum gleich beide Drogen konsumiert hatten und ob das womöglich etwas mit ihm und seiner Dominanz zu tun haben könnte?

Vor diesem seltsamen Gottesdienst schüttelte ich dem Pfarrer die Hand uns stellte mich vor. Ich bin seine Frau. Er japste nach Luft und sagte, dass er dachte, dass ich nicht kommen würde. Ein Lapsus, den er sichtlich sofort bereute. Fast wäre ich in diesem Moment wieder gegangen, doch weil A. und M. mir den Rücken stärkten, stand ich es durch.

So gingen wir alle, mit der Urne, die der Pfarrer vor uns her trug, zum Grab. Nein, falsch, kein wirkliches Grab, eine hässliche Betonwand. Nun denn, ein Loch in einer Betonwand würde ab jetzt Antonios Asche hüten. Fast hätte ich geweint und gelacht zugleich. Was hatten sie sich dabei gedacht? Antonio gehörte doch in die Erde, wenn seine Asche schon nicht verstreut werden würde, was er sich immer gewünscht hatte. Doch ich hielt den Mund, denn ich hatte ihnen ja alle Rechte abgeben. Und im Grunde war es mir egal. Dennoch tat es mir weh. Restliebe war das wohl? Die Verwandten legten ihre obligatorischen Rosen, die zuvor an alle verteilt worden waren, ins offene Grab, das eher an eine Schublade erinnerte, während ich – wie eine Aussätzige am Rand der Gruppe stehend, niemand der Verwandten außer P. hatte mich begrüßt – meine orange Rose auswickelte und dabei Papierraschel-Lärm erzeugte, der offenbar, wie mir die bösen Blicke bestätigten, alle in ihrer Andacht störte.

Umständlich legte ich meine Blume zur Urne und trat wieder zurück. Spießrutenlauf. Als die Platte aufs Grab gehoben wurde, traf mich fast der Schlag. Unter Antonios Namen und seinen Geburts- und Sterbedaten standen Lars’ Name und seine Daten. Nicht mal im Tod kann diese Familie ehrlich sein und sich dazu bekennen, dass es nicht so ist, wie es aussehen soll.

Ja, ich spüre es, während ich darüber schreibe, dass ich noch immer ein Gruseln verspüre. Müßige Fragen tauchen auf. Was wäre, wenn Antonio einen anderen Vater gehabt hätte? Und doch: Es war nicht der Vater, nein, es war Antonio gewesen, der die Ventile der Gasflaschen geöffnet hatte. Wir können immer wieder Entscheidungen treffen, allen unseren Prägungen zum Trotz. Und wir können uns verändern, wenn wir unser Handeln reflektieren. Antonio hatte unzählige Gelegenheiten gehabt, neue Werkzeuge kennenzulernen, reflektieren zu lernen, genauer hinzuschauen, Hilfe anzunehmen. Auch wenn seine Wut aufs Leben, dieses Nicht-leben-können seine Ursprünge in seiner Kindheit und Jugend gehabt hatte.

Und ja, ich verurteile Antonios Tat. Ich finde es auch heute noch schrecklich, was er getan hat. Unsäglich. Aber heute verurteile ich Antonio nicht mehr. Vermutlich habe ich ihm verziehen. Losgelassen. Mir zuliebe.

(Fortsetzung folgt)

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Quelle: »Weiterleben | Biografische Essays«, Jana. D., noch unveröffentlicht.

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