Zurück in meiner kleinen Wohnung brachen Leere und Perspektivelosigkeit mit einer Wucht über mir zusammen, die mich heute an eine Flutwelle denken lassen. Ich war überfordert von einem Alltag allein, hatte ich doch bis dahin immer mit anderen Menschen zusammengelebt. Dieses neue Leben musste ich erst lernen. Und ich musste gezwungenermaßen auch ohne meinen Sohn leben lernen. Ein Leben ohne sein Lachen, ohne seinen Trotz, ohne seine klugen Sätze, ohne seine Warum-Fragen, ohne seine Kuschelnähe, ohne seine Lieder, ohne seine Tränen, ohne seine Streiche, ohne seine Ideen, ohne seine Übermut, ohne seine Liebe.
Unvorstellbar. Unerträglich. Unmenschlich.
Und vermutlich ist es wirklich, wie so viele sagen, das Schlimmste, das es gibt, wenn das eigene Kind stirbt. Für mich jedenfalls. Meine ehemaligen Nachbarinnen und Nachbarn hatten ihr ganzes Hab und Gut bei der Explosion verloren, ich meine Familie. Es mag sich seltsam anhören, doch es war ein Trost für mich, nicht auch noch mein Hab und Gut verloren zu haben. Dass mir wenigstens meine Fotoalben geblieben sind. Dass mir Gegenstände geblieben sind, die eine Art physische Brücke zu Lars schaffen konnten. Dass es den kleinen Bären noch gab und Lars’ Bettwäsche, an der ich schnüffeln konnte.
Dennoch war meine Wohnung – zwei Zimmer und eine kleine Wohnküche – zu klein, als dass ich Lars’ Zimmer in ein Mausoleum hätte verwandeln können. Und ich musste mir dringend Aufgaben schaffen. Schreiben war das eine, mir eine Struktur geben, das andere.
Ich verlangte von mir jeden Tag mindestens einen sozialen Kontakt ab: Mindestens einmal pro Tag raus aus der Wohnung. Einkaufen, spazieren gehen, jemanden anrufen, jemanden besuchen oder einladen. Und Yoga. Jeden Tag. Haushalt natürlich, was aber ohne Kind viel weniger Arbeit machte. So gestaltete ich meinen neuen Alltag um das Schreiben der Bewerbungen herum. Nach der maximalen Zeit, die mir meine Krankschreibung erlaubt hatte, war ich nun wieder eine ganz normale Arbeitsuchende. Da meine Beraterin vom Arbeitsamt sehr menschlich war, improvisierten wir im Rahmen der Möglichkeiten, so dass der Erfolgsdruck, baldmöglichst eine neue Stelle zu finden, erträglich war. Wenigstens dort ein bisschen Erträglichkeit. Wieder täglich zur Arbeit gehen zu sollen war unvorstellbar. Vielleicht werde ich nie wieder normal?, dachte ich oft. Vielleicht kann ich nie mehr ein normales Leben führen. Was immer diese Normalität war, das hier war es jedenfalls nicht.
Einerseits setzte ich mich unter Druck, wollte baldmöglichst wieder funktionieren, glaubte zumindest, es zu sollen, andererseits wollte ich lernen, liebevoll mit mir umzugehen, wollte mir den Raum zu trauern, auch wirklich geben. So gut das eben ging. Wirklich zu trauern hieß für mich, mir keine Abkürzungen zu erlauben. Keine Ablenkungen zuzulassen. Der richtige Ansatz für mich, ohne Frage, doch war ich sehr oft sehr streng mit mir. Aus heutiger Sicht wohl zu streng.
Ich war eine Überlebende. Eine Überlebthabende. Leben aber, richtig leben ging anders. Wie das ging, hatte ich vergessen. Für mich wäre es eine Abkürzung, die ich nicht gehen wollte, gewesen, Medikamente, die meinen Schmerz gedämpft hätten, einzunehmen. Nur am Anfang hatte ich kurz ein chemisches Beruhigungsmittel genommen, doch mit diesen Tabletten hatte ich nicht mehr träumen können. Stattdessen war ich wie ein Stein eingeschlafen und am Morgen wie aus einem tiefen Koma gewacht. Alle Grautöne, die wohltuende Dämmerung zwischen Wachsein und Schlafen, fielen dabei weg; doch genau jene Zeit war es schon immer gewesen, die mir besonders gut getan hatte. Jene Phase, in der das Herz frei hatte, in der es fühlen konnte, was es wollte, ohne von meinem Kopf ständig überwacht zu werden. Jene Phase des freien Assoziierens fehlte mir schon nach wenigen Tagen so sehr, dass ich lieber schlaflose Nächte auf mich genommen hatte. Und Albträume. Und ein nassgeweintes Kissen.
(Fortsetzung folgt)
Quelle: »Weiterleben | Biografische Essays«, Jana. D., noch unveröffentlicht.
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