Als die Kinder älter wurden, erzählte ich ihnen von meinem verstorbenen Bruder Lukas und beantwortete diejenigen Fragen, die sie mir dazu stellten. Sie wollten wissen, wie er so gewesen sei, wollten Fotos von ihm anschauen und dass ich ihnen von meinen Erlebnissen mit ihm berichtete. Darüber hinaus stellten sie keine Fragen und das war gut so für mich. Ansonsten war der Tod kein spezielles Thema in unserem Familienumfeld bis zum Todestag unseres Nachbarschaftsgrosis Dora.
Dora war eine herzensgute Frau, die Kinder und Katzen über alles liebte und wunderschön malen konnte. Uns alle verband eine innige Nähe zu Dora und obschon Julian damals erst zehn Jahre alt war, beschlossen wir, ihn an Doras Beerdigung mitzunehmen.
Doras Beerdigung
Es war eine wunderschöne Trauerfeier inmitten der Natur. Die Sonne schien und wir standen vor dem Gemeinschaftsgrab in einem Kreis zusammen. Es gab ein berührendes Ritual, Gedichte wurden vorgetragen und der Pfarrer erzählte von dieser wunderbaren Frau. Weil sich alles ein wenig hinzog, nahm ich Julian an die Hand und sagte zu ihm, es würde sicher nicht mehr lange dauern.
Dann kam der Moment, auf den Julian so ganz und gar nicht vorbereitet war.
Der Pfarrer ging gemessenen Schrittes auf das Loch in der Mitte des Kreises zu. In der Hand hielt er eine Netztasche mit einem länglichen Gefäss drin. Oben am Netz war eine lange Schnur befestigt. Für Julian sah das Ganze aus wie eine Fischreuse. Als leidenschaftlicher Fischer kannte er sich aus mit solchen Netzen und wer weiss? Vielleicht hatte es ja Wasser in diesem Loch? Julian zog an meiner Hand, lehnte sich nach vorne und schaute gespannt zu.
Jetzt stand der Pfarrer vor dem Loch und sprach ein paar bedeutsame Worte. Julians Hand verkrampfte sich. Langsam liess der Pfarrer die Fischreuse in das Loch gleiten. Der Druck von Julians Hand verstärkte sich. Mit einer Schaufel Erde deckte der Pfarrer die Fischreuse zu. Es wurde ein Gedicht vorgetragen und der Name «Dora» wurde mehrfach genannt. Da zog mich Julian mit der Hand zu sich herunter. In seinem Blick lag Panik. In seinen Augen spiegelte sich das Entsetzen. Flüsternd fragte er: «Mama, ist das Dora?»
Als Julian so zu mir aufsah, seine Hand sich krampfhaft an meine klammerte und ich seine weit aufgerissenen Augen vor mir sah, da wusste ich, dass ich dieser Frage nicht ausweichen konnte.
«Nein Julian, das ist nicht Dora.» Meine Antwort war sehr klar. Da war kein Zweifel in meiner Stimme, nur die Gewissheit, dass diese Fischreuse nichts mit seiner geliebten Dora zu tun hatte. Ich versprach Julian, dass ich ihm daheim erzählen würde, wo Dora jetzt sei.
(Fortsetzung folgt)
Quelle: trosthandbuch (Seite 15/16), Barbara Walti, Selbstverlag 2016 (siehe Medientipps und www.barbarawalti.ch
Siehe auch: Der Tod und was danach kommt (in diesem Blog)
6 Gedanken zu „Was bleibt“