Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, möglichst bald wieder normal zu sein – unsichtbar und unauffällig – und der Erkenntnis, genau dies nie mehr sein zu können (falls ich es denn je gewesen sein sollte), reihte ich Tag an Tag. Im Grunde gab es nur diese drei: Weitergehen, Stehenbleiben oder Sterben. Weitergehen, wenn das Herz gebrochen ist, wenn das Leben, wie ich es gekannt hatte, nur noch aus ein paar Scherben besteht? Wie sollte das gehen? Stehenbleiben? Wo bitteschön? Denn da wo ich stand – mitten in einer Wüstenlandschaft – mochte ich nicht bleiben. Weder stehen noch sitzen noch leben fühlte sich machbar und nach Leben an. Also doch sterben?
Sag mir, wofür es sich zu leben lohnt?, fragte ich alle meine Freundinnen und Freunde. Ein ums andere Mal wollte ich Antworten und doch hielt keine Antwort meiner Prüfung stand. Wie ich überlebt habe, weiß ich heute nicht mehr wirklich.
Meine Freundin C. erzählte mir eines Tages, dass im Team ihrer Freundin P., die in einer psychiatrischen Einrichtung zur Reintegration psychisch Kranker arbeitete, eine befristete Stelle frei sei. Ob das nicht etwas für mich wäre. Inzwischen war es September geworden. Ich war wieder gesund, zumindest auf dem Papier, musste also langsam aber sicher eine Arbeitsstelle finden. Ich bewarb mich um diese befristete Stelle und wurde auch wirklich zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Ich bekam die Stelle. Vorerst für ein paar Wochen. Allenfalls langfristig, da eh immer gute Leute gesucht würden.
Am Anfang fuhr ich frühmorgens mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit, doch das war eine Qual für mich. Zuerst musste ich mit dem Bus in die Stadt fahren, wo ich auf das Postauto umstieg. Viele Leute. Lärm. Unruhe. Morgendliche Hektik. So war ich bereits sehr aufgekratzt, wenn ich in meiner Arbeitsgruppe ankam. Ich leitete die Töpferei-Gruppe und war verantwortlich für die diversen Aufträge, den Brennvorgang im große Brennofen und vor allem für eine Gruppe von vier bis sechs Personen, die alle eine Weile in der Psychiatrie gewesen waren. Alle waren sie nun wieder für gesund genug erklärt worden, um wieder Fuß in der richtigen Welt fassen zu sollen. Was immer diese richtige Welt auch war.
In Wirklichkeit waren wir ein ziemlich schräger Haufen und eigentlich hätte ich selbst ja gar nicht auf die Betreuerin-Seite gehört. Mit allergrößter Willensanstrengung brachte ich einen Tag nach dem anderen hinter mich. Drei Tage die Woche, wenn ich mich richtig erinnere. Schon in der zweiten oder dritten Woche fuhr ich mit dem Auto zur Arbeit, was mich – trotz der morgendlichen Staus – doch viel weniger aufwühlte. Ich langte ein bisschen weniger ausgelaugt dort an. Doch am späten Nachmittag, wenn ich wieder ins Auto stieg, war ich jedes Mal einfach nur kaputt. Und dennoch stolz darauf, wieder einen weiteren Tag geschafft zu haben, ohne in Tränen ausgebrochen zu sein. Ein wenig fühlte ich mich wie eine Verräterin, denn es war mir als würde ich vor dem Trauerprozess davonlaufen. Im Umgang mit meinen Klientinnen und Klienten, mit denen ich am runden Tisch saß und mit denen ich mein kleines Wissen im Umgang mit dem Ton teilte, vermied ich es, über mich zu reden. Das war im Grunde nicht sehr schwer, denn entweder schwiegen wir alle, in uns selbst versunken, oder jemand erzählte über sich. Denn das eigene Leben war für die meisten, verständlicherweise, das Hauptthema. Ich kam mit meiner Tarnung ziemlich gut durch, bis mich eines Tages, vermutlich war ich bereits etwa vier oder fünf Wochen dort gewesen, jemand fragte, ob ich Kinder hätte. Ich konnte kein Wort sagen. Ja wäre zwar die richtige Antwort gewesen, doch hätte ich dann nicht von Lars’ Tod erzählen müssen? Oder ein Leben erfinden, das es so nicht mehr gab? Nein zu sagen, käme einer Lüge gleich. Wie genau ich mich aus der Affäre gezogen habe, weiß ich heute nicht mehr.
In jenen Tagen war ich auch gefragt worden, ob ich noch länger bleiben könne, denn die krank geschriebene Kollegin sei noch nicht wieder einsatzfähig. Ich hatte eigentlich gehofft, einfach bald wieder da raus zu kommen, denn mir war klar, dass ich so nicht auf Dauer arbeiten konnte. Nicht jetzt. Nicht mit diesem selbst so zerbrechlichen Klientel. Denn mir ging es sehr schlecht. In jeder Hinsicht. Auch körperlich. Oft war mir schwindlig. Eines Tages war es besonders schlimm. Es war mir nicht nur schwindlig, ich musste mich auch immer wieder kurz auf der Toilette erholen, mir Wasser ins Gesicht spritzen und durchatmen, die Panikattacken aussitzen, um eine weitere Stunde durchhalten zu können. Schließlich meldete ich mich ab, krank geworden, und fuhr nach Hause. Ich schaffte es knapp in die Wohnung, dort brach ich zusammen.
Eine ganze Weile saß ich am Boden, an eine Wand gelehnt, unfähig, wieder aufzustehen. Irgendwann hatte ich es wohl aufs Sofa geschafft. Und irgendwie ans Telefon. Ich rief meine Ärztin an und erzählte ihr von meinem Kreislaufkollaps. Sie meinte, ich solle am nächsten Tag in die Praxis kommen, falls das gehe. Auf jeden Fall werde sie mich ab sofort wieder krankschreiben. Ich rief im Betrieb an und meldete mich bis auf weiteres ab. Noch dachte ich, dass ich in ein paar Tagen zurückkehren würde, um wenigstens die vereinbarte Zeit abschließen zu können. Erst nach etwa einer Woche begriff ich, dass ich noch nicht so weit war.
Bei einer feinen Körpertherapeutin hatte ich inzwischen den für mich richtigen Therapieplatz gefunden. Ihre Therapie wirkte vor allem in die Tiefe. Zwar redeten wir auch, doch in erster Linie arbeitete sie an meinem Körper. Es ging dabei vor allem darum, meine Lebensenergie zu unterstützen, denn mein Energiepegel war total im Keller. Mein Kreislauf wurde im Laufe dieser wöchentlichen Behandlungen wieder stabiler und auch die Atemenge, ausgelöst von den Panikattacken, löste sich allmählich. Außerdem fühlte ich mich bei Frau W. sehr geborgen und konnte mit ihr über alles zu reden. Ihre Therapieform, Metamorphose genannt, war – so erkenne ich im Nachhinein – der Anfang des Heimweges, dieses Weges in mein Herz zurück.
Quelle: »Weiterleben | Biografische Essays«, Jana. D., noch unveröffentlicht.
Zu den vorherige Texten bitte → hier klicken.