Die ersten Tage danach

Wer schon einmal erlebt hat wie das ist, wenn einem die Nachricht überbracht wird «dein geliebter Mensch ist tot» der weiss, wie es sich für mich angefühlt haben muss, als mein älterer Sohn Basil mir die Nachricht überbrachte, mein jüngerer Sohn Julian sei gestorben.

Wer das Glück hat, so etwas noch nie erlebt zu haben, der kann sicherlich erahnen, wie es sich anfühlt, wenn ihm so etwas widerfährt.

Meine Geschichte könnte nun derart weitergehen, dass ich ausführlich über meine Gefühlslage der ersten Tage oder gar des ersten Jahres danach berichten würde. Dann jedoch wäre es nicht dasjenige Buch, das zu schreiben mir vorschwebt. Ich möchte deshalb meine Geschichte auf eine etwas andere Art und Weise weiter führen, indem ich so chronologisch wie möglich von denjenigen Erfahrungen erzähle, die ich in der Zeit danach gemacht habe.

Die Zeitungsberichte

Eine dieser Erfahrungen war diejenige, die ich mit der Berichterstattung in der Presse gemacht habe. So schrieb zum Beispiel die in tausendfacher Auflage überall herumliegende Gratiszeitung 20 Minuten bereits am Montagmorgen, was sich in der Nacht auf Sonntag alles zugetragen hatte:

«Julian W. hatte LSD im Blut
Der am Sonntag im Büschiwald in Köniz leblos aufgefundene Julian W. stand unter Drogeneinfluss. Gegen seine Kollegen läuft nun ein Verfahren wegen unterlassener Nothilfe.»

Wäre ich damals auf Seiten der Leserschaft gestanden, wäre mein erster Gedanke mit Bestimmtheit gewesen: Zum Glück hat mein Kind bei dieser Waldparty nicht mitgemacht! Ich stand jedoch auf der anderen Seite und eines meiner Kinder hatte mit- gemacht und war gestorben. So habe ich die Zeitungsartikel mit ganz anderen Augen gelesen und immer wiederkehrend war da dieser eine Gedanke: Warum gerade er? Ich las von dieser Nacht, sah den Namen meines Sohnes, sah die Bilder dieses Waldes und meine tiefe Trauer wurde durch die ausführliche Berichterstattung noch einmal in unbeschreiblicher Weise verstärkt:

Wie kann es sein, dass ich in dieser Nacht von der Not meines Sohnes nichts gefühlt habe?
Wie ist es möglich, dass mein Sohn stundenlang im Wald am Boden gelegen hat und ganz alleine sterben musste, wo er doch in der Nacht zuvor noch friedlich in unserer Ferienwohnung geschlafen hatte?
Was ist geschehen in dieser kurzen Zwischenzeit?
Und wie kann es sein, dass ich gerade noch unzählige Bilder von im Meer herumtollenden Julian mit meinem iPhone aufgenommen habe und mir nun heute Zeitungsfotos anschauen muss, die von einer ganz anderen Wirklichkeit erzählen?

Täglich wurden die Berichte in den Zeitungen aktualisiert. Ich hatte sogar Verständnis dafür, genauso wie alle anderen wollte auch ich wissen, was genau geschehen war an dieser Waldparty, bei der plötzlich LSD im Spiel war.
Von wem?
Wen kann man dafür zur Verantwortung ziehen?
Wer waren letztlich die Schuldigen?
Was muss getan werden, damit sich ein solcher Vorfall nie wieder ereignen wird?
Und vor allem: Inwiefern kann ich meine Kinder schützen, damit ihnen so etwas nie geschieht?!

Ja, mit Bestimmtheit hätte auch ich alle diese Zeitungsartikel gelesen und mich ein wenig gewundert, dass Fachleute berichteten, an LSD sei noch kein einziger Mensch gestorben. Ich hätte die darauffolgenden Artikel interessiert mitverfolgt und immer wäre da im Hintergrund dieses unendlich dankbare Gefühl gewesen, dass dieser Kelch noch einmal an mir vorbeigegangen ist.

Nun las ich die Berichterstattungen zum Fall «Büschiwald/Köniz» aus einer ganz anderen Perspektive, denn der Kelch blieb an mir hängen und der Gedanke «hätte ich doch» nahm so viel Raum in meinem Kopf ein, dass ich die Antwort für die Schuldfrage längst gefunden hatte.

Mein Sohn war gestorben und in meinen Augen trug ich die alleinige Verantwortung dafür, denn ich war seine Mama, ich hatte ihn neun Monate in mir heranwachsen gefühlt, und ich hatte meinen beiden Kindern bei ihrer Geburt versprochen, dass ich alles für sie tun und immer für sie da sein würde.

(Fortsetzung folgt)

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Quelle: trosthandbuch, Barbara Walti, Selbstverlag 2016 (siehe  Medientipps und www.barbarawalti.ch
Siehe auch: Der Tod und was danach kommt (in diesem Blog)

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